Werner Herzog gehört - zusammen mit Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff und Wim Wenders - zur ersten Generation des Neuen Deutschen Films. Nach dem „Oberhausener Manifest“ aus dem Jahr 1962, in dem sich junge Filmemacher vom kommerziellen und konservativen Kino der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland losgesagt hatten - „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen“ -, hatten diese Autoren mit sehr begrenzten ökonomischen Mitteln Filme geschaffen, die aus ihren Schauplätzen (die nichts kosten durften) und den Darstellern (oft Laien oder angehende junge Schauspieler ohne Erfahrungen) zugleich größtmögliche Authentizität und größtmöglichen ästhetischen Effekt zu gewinnen lernten. Daraus entstand eine eigene Mischung aus sehr direktem visuellem Naturalismus und poetischer Stilisierung in den Dialogen und im Spiel. Eine Fremdheit im Vertrauten, eine Unversöhntheit zwischen den Charakteren und ihrer Umwelt. Dabei entsprachen Methode und Botschaft einander: In diesem Kino ging es um Menschen, die an ihren Orten nicht wirklich zuhause sind, darum, dass man als junger Mensch nicht recht entscheiden kann, ob man sich gerade befreit oder ob man einfach nur allein gelassen wird. Die Ästhetik des neuen deutschen Films gab das Lebensgefühl vieler junger Menschen in der Bundesrepublik Deutschland der sechziger und siebziger Jahre wieder, die mit der allgemeinen Verdrängung der Geschichte von Nationalsozialismus und Weltkrieg ebenso wenig einverstanden waren wie mit dem blinden Konsumverhalten im „Wirtschaftswunder“. Man wollte zu einer offenen Zukunft aufbrechen, aber zugleich empfand man den Verlust an familiärer und kultureller Geborgenheit. Dieses Kino handelte von Außenseitern, Verweigerern und Unangepassten, und insbesondere in der Filmwelt des Werner Herzog entstand eine bildmächtige Mythologie um den einsamen Träumer, der sich auf ein großes Abenteuer am Rand der Zivilisation einlässt, und von Menschen, die sich trotz körperlicher oder sozialer Benachteiligungen das Recht auf die selbständige Existenz nicht nehmen lassen. Die Film-Träume des Werner Herzog damals hatten etwas sehr Einzigartiges, und zugleich sprachen sie vielen Menschen dieser Zeit aus dem Herzen.
In den frühen Filmen von Werner Herzog sieht man gleichsam jemandem zu, der das Kino für sich noch einmal neu erfindet. Die Natur, die eine gewaltige Kraft darstellt, wird mit einer Mischung aus Trotz und Staunen gesehen: Sie fordert den einsamen Träumer dazu heraus, ein noch so aberwitzig erscheinendes Projekt zu beginnen, und sei es, ein Opernhaus inmitten des Amazonas-Dschungels zu errichten, wie in Herzog erfolgreichem FITZCARALDO, Berge zu erklimmen, Luftschiffe zu bauen, Kunstwerke zu erschaffen oder dorthin zu gelangen, wo noch niemand war. Für diese Rebellion gegen die natürlichen und sozialen Grenzen des Menschen war Klaus Kinski für Werner Herzog der ideale Darsteller, ein Besessener auch er, der in insgesamt fünf Filmen mit ihm die Haupt- und Titelrolle übernahm, und dem der Regisseur später eine Dokumentation mit dem bezeichnenden Titel MEIN LIEBSTER FEIND widmete.
Aber diesem heroisch-tragischen Bild vom einsamen Träumer im Kampf mit der unbarmherzig schönen Natur steht in Werner Herzogs Film-Welt auch ein anderer Blick gegenüber, der voller Einfühlung und Sympathie etwa in die Welt einer taubblinden Frau in LAND DES SCHWEIGENS, LAND DER DUNKELHEIT führt, und in vielen Filmen von Herzog kommt zu der Faszination für Besessenheit, Traum und Abenteuer auch eine Spur von Mitleiden und nicht zuletzt ein sehr eigener Humor hinzu. In seinen Spielfilmen wie in seinen Dokumentationen spiegelt sich stets so etwas wie eine magische Autobiographie - „Was ich bin, sind meine Filme“ sagt der Regisseur im gleichnamigen Film-Portrait. Es sind die Filme eines Menschen, der zugleich so sanft und demütig und so entschlossen und unbeugsam sein kann wie kaum ein anderer. Dieser Widerspruch zieht sich durch eine mittlerweile enorme Filmographie mit künstlerischen und kommerziellen Höhen und Tiefen. Aber noch in Filmen, die inhaltlich auf gewiss nicht unberechtigte Kritik gestoßen sind, wie die Sklavenhändler-Geschichte von COBRA VERDE, zeigt sich, dass das Kino für Menschen wie Herzog, und Menschen wie Herzog für das Kino geschaffen sind. Die großen Herausforderungen, denen sich der Regisseur in jedem seiner Projekte stellt, für die manchmal eine traditionelle Film-Figur benötigt wird und manchmal nicht, besteht am Ende immer darin: Zu sehen. Zu sehen, wie die Welt sich öffnet, wie das Verborgene sichtbar wird, und manchmal geht es auch darum (wie es in WHITE DIAMOND geschieht), ein Geheimnis besser zu bewahren. Vielleicht ist Werner Herzog, der Filmemacher, der nur in der Welt zuhause sein kann, in diesem magisch-romantischen Blick dann doch immer sehr deutsch geblieben.
Georg Seeßlen